Im Westen kursierten schon immer wilde Gerüchte über die Klassifikation und Bedeutung von chinesischen Schriftzeichen. Nicht selten hört man Dinge wie “chinesische Schriftzeichen sind allesamt Piktogramme oder manche sprechen im Zusammenhang mit den chinesischen Schriftzeichen gar von einem chinesischen Alphabet. Obwohl es im Bezug auf die chinesischen Schriftzeichen durchaus noch Rätsel gibt und die etymologische Bedeutung der chinesischen Zeichen durchaus nicht immer in Stein gemeisselt ist, ist eines klar: Die chinesische Schrift kann definitiv nicht als Alphabet bezeichnet werden und sie besteht auch nicht primär aus Piktogrammen. Ganz im Gegenteil: Nur ein ganz kleiner Teil der chinesischen Schriftzeichen basiert auf Piktogrammen.
Die sechs Kategorien der chinesischen Schrift – The six scripts
Dem heutigen Stand (der Forschung) entsprechend, werden chinesische Schriftzeichen in sechs Kategorien aufgeteilt. Diese Kategorisierung ist aber alles andere als neu, denn sie geht auf das Werk liù shū gù 六書故 eines gewissen Tai Tung zurück, welcher im 13. Jahrhundert gelebt haben soll. Dieses Werk, welches eine relativ detaillierte und grösstenteils überzeugende und akkurate Beschreibung der chinesischen Schriftzeichen in sechs Kategorien präsentiert, wurde Mitte des 19.Jahrhunderts auch ins Englische übersetzt und erschien im 20.Jahrhundert wiederum in einer Neuauflage (The Six Scripts, Lionel Charles Hopkins).
Chinesische Schriftzeichen - 1. Kategorie: 象形 (xiàng xíng)
Nur wenige chinesische Schriftzeichen fallen effektiv in die Kategorie Piktogramme/Bildzeichen. Ein paar Beispiele dafür sind: mǎ 馬,lóng 龍,guī 龜,niǎo 鳥 und rén 人 und yuè 月。Es handelt sich hier um Schriftzeichen, bei welchen das Zeichen selbst die Realität wiedergeben soll. Das Zeichen 馬 steht für Pferd und 馬 soll dementsprechend ein Abbild für ein Pferd sein. Auf den ersten Blick mag dem einen oder anderen die Herleitung dieses Abbildes vielleicht etwas komisch vorkommen, bei genauerer Betrachtung kann man jedoch erkennen/erahnen, dass es sich bei 馬 in der Tat um ein Abbild/Umriss eines Pferdes handelt. Das chinesische Schriftzeichen 月 welches für Mond steht und rì 日, welches für Sonne steht, sind vielleicht sinnbildlichere Repräsentanten für diese Kategorie, da man die Zeichen 月 und 日 ohne grössere Schwierigkeiten dem entsprechenden ‘Gegenstück’ aus der realen Welt zuordnen kann, selbst als Laie in Bezug auf chinesische Schriftzeichen.
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Chinesische Schriftzeichen - 2. Kategorie: 指事 (zhǐ shì)
Die zweite Kategorie der chinesischen Schriftzeichen besteht aus den sogenannten 指事, was literal als ‘auf eine Sache hinweisen’ oder ‘auf Tatbestände deuten’ übersetzt werden kann. Damit sind aber eigentlich Ideogramme gemeint. In diese Kategorie fallen demnach Schriftzeichen, die abstrakte Begriffe symbolisch darstellen wie 上, 下 und und die Zahlen ‘Eins’, ‘Zwei’ und ‘Drei’ (一,二,三)
Chinesische Schriftzeichen - 3. Kategorie: 會意 (huì yì)
Diese Gattung chinesischer Schriftzeichen umfasst Zeichen, die semantische Bedeutungen vereinen, daher auch der Name 会意
‘vereinigte Bedeutungen’. Diese Gattung von Zeichen werden auch synsemantische Zeichen genannt. Hierbei handelt es sich um Zeichen, welche sozusagen ausschliesslich aus zwei oder mehr semantischen Bestandteilen bestehen. Ein gutes Beispiel dafür ist cóng 从’folgen’. Dieses chinesische Schriftzeichen besteht im Prinzip aus zweimal dem Schriftzeichen rén 人 ‘Mensch‘. Das Schriftzeichen 从 wurde folglich von 人 abgeleitet, in dem das Zeichen verdoppelt wurde und in 从 demnach nicht mehr ‘Mensch’ bedeutet sondern ‘folgen’, was auch durchaus nachvollziehbar ist, denn bei ‘zwei Menschen hintereinander’ ist die Bedeutung ‘folgen’ nicht mehr weit. Dieses Spielchen lässt sich aber mit 人 noch weitertreiben, indem man noch ein Weiteres 人 hinzufügt, denn dann bekommt man zhòng 众,was für ‘Menschenmasse’ steht und – Sie ahnen es schon – aus 3x Mensch besteht. Und weil es so schön war, hier noch ein weiteres Beispiel: mù 木 . 木 bedeutet Holz/Baum. Dieses chinesische Schriftzeichen an und für sich ist ein Piktogramm, denn wie sich leicht erkennen lässt, handelt es sich hier um ein Abbild eines Baumes. Wenn wir nun 木 verdoppeln, dann erhalten wir lín 林 und wenn wir dort noch einmal 木 hinzufügen sind wir bei sēn 森. Und was könnten wohl viel Holz, respektive viele Bäume zusammen darstellen? Genau, Wald –> sēn lín 森林. Da diese synsemantischen Schriftzeichen so wunderbar logisch und faszinierend sind, erstaunt es kaum, dass viele chinesische Lehrwerke diese Gattung von Schriftzeichen aufgreifen, um Anfängern die chinesische Schrift ‘schmackhaft’ zu machen. Dabei gibt es nur ein Problem: Leider machen die synsemantischen Schriftzeichen nur einen ganz kleinen Teil aller chinesischen Schriftzeichen aus und daher ist das Lernen der Schriftzeichen (leider) mehr als einen semantischen Bestandteil abermals zu verdoppeln und zu verdreifachen.
Chinesische Schriftzeichen - 4. Kategorie: 形聲 (xíng shēng)
Die vierte Kategorie der chinesischen Schriftzeichen, die 形聲, bilden die mit Abstand grösste Kategorie chinesischer Schriftzeichen. Solche chinesische Zeichen, die in diese Kategorie fallen, sind wie folgt aufgebaut: Sie verfügen einerseits über ein Radikal, welches stets die semantische Komponente des Schriftzeichens repräsentiert. Zudem verfügen solche chinesische Schriftzeichen auch über eine lautgebende Komponente, welche unter anderem auch als Phonetikum oder Lautträger bezeichnet wird. Die 形聲-Zeichen fassen demnach Zeichen zusammen, welche jeweils aus einer Sinn- und einer Lautkomponente bestehen. Diese Zeichen können dementsprechend auch als phono-semantische Zeichen bezeichnet werden. Diese Gattung chinesischer Schriftzeichen macht rund 90 % aller chinesischen Schriftzeichen aus! 9 von 10 chinesischen Schriftzeichen sind dementsprechend phono-semantisch und nicht, wie viele Leute immer wieder gerne mal behaupten, piktographisch.
Chinesische Schriftzeichen - 5. Kategorie: 假借 (jiǎ jiè)
Die Kategorie der 假借 umfasst sprichwörtlich Zeichen, die ‘unter einem falschen Namen’ klassifiziert sind. Man spricht in diesem Zusammenhang meist von phonetischen Entlehnungen. In dieser Kategorie finden sich dementsprechend chinesische Schriftzeichen, die ursprünglich sehr ähnlich klangen (z.B gleiche Silbe aber anderer Ton), jedoch eine andere Bedeutung trugen. Nach dem Rebusprinzip wurden auf diese Weise Schriftzeichen phonetisch entlehnt. Ein bekanntes Beispiel in diesem Zusammenhang ist qí 其,welches ursprünglich eine spezielle Art von Schaufeln aus Bambus bezeichnete. Im antiken China war qi unter anderem aber auch das Pronomen für er/sie/es, und aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit wurde das ursprüngliche 其 schlussendlich für die Bedeutung als Pronomen er/sie/es entlehnt. Während bei dieser phonetischen Entlehnung das Zeichen an und für sich gleich geblieben ist, wurden die chinesischen Schriftzeichen meistens so entlehnt, dass sich das Radikal des jeweiligen Zeichen änderte, sprich beispielsweise ein Radikal hinzugefügt wurde.
Chinesische Schriftzeichen - 6. Kategorie: 轉注 (zhuǎn zhù)
Die letzte Kategorie, die sogenannten 轉注 umfassen nur sehr wenige Zeichen. Hierbei handelt es sich um ‘sich wechselseitig kommentierende Zeichen‘ 轉注. Die genaue Übersetzung von 轉注 ist jedoch umstritten. Andere Bezeichnungen für diese Kategorie sind ‘Deflected’ und auf Wikipedia wird diese Zeichengruppe gar mit ‘Synonyme’ betitelt. Letztere Bezeichnung scheint mir etwas schleierhaft zu sein. Die Definition der 轉注, so wie sie hier dargelegt wird, entspricht indes auch nicht der Bedeutung, wie sie auf Wikipedia angepriesen wird. In die Kategorie der 轉注 fallen unserer Definition nach Zeichen, welche durch Rotation eines anderen, bereits bestehenden Zeichens, hervorgehen. Ein Beispiel hierfür wäre 阜 ’reichlich/Erdhügel’, welches durch die Rotation zur Seite von 山 hervorgeht. Ein anderes Beispiel, welches im Zusammenhang mit 轉注 gerne genannt wird, istl lǎo 老 und kǎo 考. Eine Erklärung in Chinesisch zu 考 und 老 im Zusammenhang mit 轉注 finden Sie hier.